Es ist für mich immer wieder faszinierend, wenn ich für meine europäischen Bekannten, Freunden vietnamesisch, laotisch koche und folgendes erkläre:

  1. Mehrere Gerichte befinden sich “in unserer Mitte” (des Tisches).
  2. Davon ist eine Suppe, die wir uns teilen, d.h. wir löffeln alle aus einer gemeinsamen Schüssel.
  3. Alles wird mit Stäbchen gegessen - bis auf die Suppe natürlich.
  4. Die Reisschale nimmt man während des Essens in die Hand.
  5. Jedes Gericht ist für sich alleinstehend und wird nicht vermischt.
  6. Ab und an legt der Gastgeber (und auch andere) eine Portion eines Gerichts in die Schale eines Gastes.

Hmmm… falls Dir das fremd vorkommt, dann würde mich interessieren, was dir gerade durch den Kopf geht ;). Hier meine Beobachtungen:

Zu 1. Essen teilen Im Gegensatz zur deutschen und anderen Kulturen, gibt es nicht mein Teller, meins-deins. Das Essen in der Mitte ist Ausdruck des Wir-Gefühls, drückt Freude und Schönheit in unser Beisammensein aus.

Zu 2. Suppe teilen, schlürfen Das ist vermutlich für Ungewohnte ein schwieriger Part ;). Für uns jedoch konsequent. zwischendurch löffelt man hin und wieder eine Portion aus der Schüssel und… schlürft. Schlürfen, ja, je nach asiatischer Herkunft gibt es Unterschiede. Meistens dezent. Bei einer Nudelsuppe - wie unserem Nationalgericht Phở - kannst du gerne am Schluß die große Schüssel in die Hand nehmen und den Rest ausschlürfen. Ich sage immer: eine Suppenschüssel auszuschlürfen massiert deine Seele, ist Muße für deinen Geist und füllt deinem Körper mit Lebenskraft!

Zu 3. Stäbchen Wer’s nicht kann: dranbleiben! Scham oder Verlegenheit ist aus unserer Sicht der falsche Kontext. Würdest du bei unseren Eltern sitzen, dann kann es passieren, dass sie auf vietnamesisch was sagen, oftmals lachen. Und zwar aus einem, einzigen Grund: es freut sie, uns ungemein, ein Zoll unseres Respekts, denn du hälst unsere Kulturfahne zwischen deinen Fingern hoch. So einfach nähern sich diese beide Welten, jeder beherrscht es innert kürzester Zeit - in jedem von euch steckt eine Kurznase!

Es gibt nicht die Stäbchen-Technik. Wenn Kinder dabei sind, dann versuche ich es gar nicht groß zu erklären. Jedes findet seinen eigenen Stil. Wie wir fünf Geschwister: jeder hat seine persönliche Technik, eine leicht andere Handhabung, andere Präferenzen welches Gericht zuerst kommt, bei jedem Gericht andere Stile, ob die Bohne zuerst in den Mund, oder mit einem Stück Fleisch zuerst in die Schale, oder das Fleisch oder das Gemüse zuerst gedippt und dann gegessen wird, oder während dem Bissen mit einem gedippten Salat im Gaumen verfeinert wird. Auch hier zeigt sich: Stäbchen sind eine Verlängerung unserer Finger. Wir fassen, berühren sozusagen unser Essen. Das erzeugt mehr Nähe und… genau: Verbindung, Atmosphäre, Kontakt! Und ganz wichtig: zwischendurch einfach mit den Händen arbeiten, den Salat, das Hühnchen am Knochen direkt in die Finger nehmen.

Zu 4. Reisschale “Das Universum in einem Reiskorn”, lautet ein Sprichwort im Buddhismus oder wie mir ein muslimischer Verkäufer mal sagte: “Der Tag in einem Moment”.

Wir ehren das Essen, “Reis essen!” ist - je nach Kontext, oftmals subtil - für uns gleichbedeutend wie:

  • “Essen ist fertig!”,
  • “Hast du Hunger?”,
  • “Wie geht es dir?”,
  • “Ich liebe dich!”,
  • “Geht es dir gut?”,
  • “Ich sorge mich um dich!”

So sehr uns Essen bedeutet, brauchst du dich nicht unnatürlich am Tisch herunterzubeugen, deinen Bauch einzudrücken, um deine Lebensnahrung zuzuführen.

Begegnen auf Augenhöhe,
Häppchen aus der Mitte,
Reisschale auf Mundhöhe,
Lippen am Schalenrand,
Übergang der Kostbarkeit
Stäbchen zur Schale,
Hinein zum Gaumen,
Hinauf ins Glück.

Auch wenn es dich juckt, instinktiv du gleich zwei, drei oder vier Löffel eines Gerichts in deine Schale reinlegen möchtest, so wie du es gewohnt ist, ich nenne es das westliche Maß bzw die “Teller-Einheit”:

Auf einen Teller mit einer Beilage wie “Reis” gehört soundsoviel “Portionseinheiten” eines Hauptgerichtes.

Ja, ja, wir alle sind tolerant und offen - einerseits. Andererseits haben wir unsere instinktiven Gewohnheiten, die in Bezug auf andere Kulturen, Gewohnheiten vielleicht etwas gedankenlos, ungeschick sind ;). Aus meiner, vietnamesischer Sicht, ist es höflicher, eine Portion in die Schale zu nehmen. Wir wollen alles wohlwollend teilen und uns Zeit lassen.

Zu 5. Gerichte sind für sich alleinstehend Es sei denn es ist ein Potpourri - hier kannst du alles zusammenschmeißen ;). Am besten in einen Mixer, das Hühnchen, den Salat, den Fisch und die Suppe.

Früher hatte ich auch Lust auf Spiegelei mit Ketchup, Chips mit Käse, Speck mit Fisch. Doch es wäre jedem Gericht und ihr liebervoller Aufwand nicht gerecht. Ich erinnere mich, wie eine Freundin von einer japanische Familie berichtete. Diese verbrachten ihren Urlaub in der Schweiz und wollten deren tradionelle Küche kennenlernen.

Off-Topic: Fragen/Sichtweisen eines Vietnamesen

Wieso wird in westlichen Ländern andere, kulturelle Gerichte - wie die asiatische - auf westliche Art und Weise, auf einen Teller serviert? Ich beispielsweise serviere immer traditionell.

Wieso wird fraglos-drauflos gegessen, so wie man es gewohnt ist? Ein Gedankenspiel: bei der nächsten Einladung, könnte ich die Spargelspitze abschneiden und stehen lassen. Oder besser: diese wortlos in den Teller meines Gegenübers legen :P.

Wieso wird für alles der Begriff “asiatisch” verwendet? Hmm, wo war ich letztens im Urlaub? In Europa. Was hatte ich gegessen? Europäisch. Die europäische Kultur, besonders an der europäsichen Südküste hat es mir angetan ;) :)).

Aber zurück: Wie schön, ein interessierter Vater, der wissen wollte, wie man denn Fondue esse. Leider vergaß es die Bedienung im Eifer des Gefechts. So nahm er den Topf und verabreichte jedem Familienmitglied eine Portion aus dem Fonduetopf. Alle Gäste sahen das, keiner sagte etwas, Kopfschüttelnder Kellner, Kellertiefes Schamgefühl von…. der japanischen Familie.

Die obigen 6 Punkte sind mein Mantra, geduldig, manchmal humorvoll, aber immer ist es mir wichtig und bitte dich lieber Freund und Gast jedes Gericht, jeden Geschmack, den Ton, deren Eigen-Besonderheit für sich im Gaumen genießen zu lassen. Und in 98% der Fälle - spitz formuliert

Ganz schnell nimmt der Gast ein, zwei Löffel von der Suppe in die Reisschale, das karamelisierte Fleisch untergemischt, das andere Wok-Gericht beigefügt, im Reis vermengt, um es dann in zwei, drei Rutsch-Flutsch-Gängen den Rachen geschoben. Aber beim “Japaner”, wird dann schön gezeigt, wie man deren Sushi zelebrieren kann, am besten ein Sashimi, nach dem anderen, im endlosen Karussel vorsichvorbeikreisend. Einmal sah ich am Tisch Mann, Frau und deren Kind im Sushi-Restaurant. Das Kind tat sich schwer damit und mit den Stäbchen und wurde vom Vater gezwungen “dranzubleiben”. Dabei ist es völlig okay, die Stäbchen mit den Fingern zu nehmen - einfach, spielerisch, sich dem Neuen, Unbekannten heranzutasten, berühren, ein Hauch auf der Zungenspitze und in der Nase.

Zu 6. Gesten, Symbolik, Zuneigung Sichtweisen, besonders interkulturelle, können sehr gegensätzlich sein, was mein Gegenüber hier als Bevormundung ansieht, wenn ich ein Stück vom Huhn, von der knusprigen “Schweinehaut”, ein Gemüse dippe und es in deine Schale reinreiche, gilt bei uns als besondere Wertschätzung, Zuneigung und Bedeutung des Gastes, Freundes, Momentes. Für dich fühlt sich das an wie ein Kind, das nicht selbständig essen kann. Für mich ist es so, als würde ich dir die Spitze des Spargels von meinem Teller überreichen. Yin und Yang eben. Wasser über/mit Feuer, nicht Feuer über Wasser!

Genussvollen Abend dir, Mr. T - wie Tai, aus Vietnam, nicht Thailand, daher ohne ‘H’ ;)